© MICHÈLE BACHMANN COACHING
Eine Geschichte über Zeit, die sich öffnen darf.
In einem alten Haus, das schon viele Winter gesehen hatte, stand eine Standuhr.
Sie war aus dunklem Holz, mit goldenen Zeigern und einem Pendel, das unermüdlich schwang.
Takt für Takt.
Sekunde für Sekunde.
Sie war stolz auf ihre Genauigkeit.
Auf ihre Verlässlichkeit.
Auf das Gefühl, gebraucht zu werden.
Doch manchmal, wenn der Mond durch das Fenster schien, spürte sie etwas.
Nicht Unruhe.
Nicht Zweifel.
Sondern eine leise Frage: Was passiert, wenn ich einmal aus dem Takt falle?
Die anderen Uhren lachten.
„Du bist doch das Herz des Hauses.“
„Wenn du stillstehst, steht alles still.“
Aber die Standuhr schwieg.
Denn sie wusste: Manche Fragen lassen sich nicht mit Logik beantworten.
Manche Fragen brauchen Flügel.
Eines Morgens, als der Regen sanft gegen die Scheiben klopfte, flog ein kleiner Vogel durch das offene Fenster.
Er war bunt, leicht, ungebunden.
Er hatte keinen Plan, keine Route, keine Uhr.
Nur einen Rhythmus, der aus dem Inneren kam.
Er landete auf der Standuhr.
Ganz oben, auf dem geschnitzten Holz.
Und sang.
Nicht laut.
Nicht lang.
Aber so, dass die Uhr ihn hörte.
„Du misst Zeit?“ fragte der Vogel.
„Ich halte sie zusammen,“ antwortete die Uhr.
„Und wer hält dich?“
Die Uhr schwieg.
Denn sie wusste es nicht.
Der Vogel hüpfte näher.
Er betrachtete das Pendel, das unermüdlich schwang.
„Du bist schön,“ sagte er.
„Nicht weil du funktionierst. Sondern weil du atmest, auch wenn du es vergessen hast.“
Die Uhr wollte widersprechen.
Aber etwas in ihr war still geworden.
Nicht kaputt.
Nur offen.
„Wie misst du Zeit?“ fragte sie.
„Gar nicht,“ sagte der Vogel.
„Ich lebe sie.“
Die Uhr dachte nach.
Was bedeutet das… Zeit leben?
Nicht zählen.
Nicht festhalten.
Sondern spüren.
Der Vogel blieb.
Nicht für immer.
Aber lange genug, dass die Uhr begann, anders zu ticken.
Nicht ungenau.
Aber mit mehr Raum zwischen den Schlägen.
Mit mehr Atem.
Mit mehr Lauschen.
Und als der Vogel eines Tages weiterflog, liess er etwas zurück:
Nicht ein Lied.
Nicht ein Federkleid.
Sondern eine Erinnerung daran, dass Zeit nicht nur gemessen werden kann.
Sondern auch gefühlt.
Denn manchmal sind wir wie Uhren: verlässlich, strukturiert, gebraucht.
Wir halten den Takt, geben Orientierung, und vergessen dabei, wie es ist, einfach zu atmen.
Und manchmal sind wir wie Vögel: leicht, wandernd, ungebunden.
Wir folgen dem inneren Rhythmus, und vergessen dabei, wie es ist, gehalten zu sein.
Doch in Wahrheit tragen wir beides in uns.
Den Wunsch, Bedeutung zu haben.
Und die Sehnsucht, einfach zu sein.
Den Takt, der uns schützt.
Und den Atem, der uns befreit.
Der Vogel und die Uhr erinnern uns daran, dass Zeit nicht nur gemessen werden kann.
Sondern auch gespürt.
Dass Struktur nicht das Gegenteil von Freiheit ist.
Sondern manchmal ihr Rahmen.
Und vielleicht beginnt Menschlichkeit genau dort: Wo wir aufhören, uns zu kontrollieren.
Und beginnen, uns zu begegnen.
Nicht im Takt.
Sondern im Zwischenraum.
Dort, wo das Leben nicht gezählt wird.
Sondern gelebt.